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...
An
einem Montag im Mai stand eine neue Schülerin in der Tür, sah sich um
und setzte sich einfach auf den leeren Platz neben mich. Sie guckte in der
die Gegend herum, holte dann ein Butterbrot und einen Apfel aus der Tasche
und begann zu essen. Als unsere Lehrerin in die Klasse kam, aß sie
seelenruhig weiter.
Frau
Müller stellte uns die neue Schülerin vor und da erst fiel ihr auf, dass
die Neue, Amelie, den Mund voll hatte. Sie sah sie missbilligend an: „In
meiner Klasse wird während des Unterrichts nicht gegessen!“
„Ich
habe aber Hunger“, sagte Amelie und biss in ihr Brot.
„Wenn
es dir bei uns nicht passt“, sagte Frau Müller streng, „kannst du
gleich wieder gehen.“
Amelie
aß das Brot in aller Ruhe zu Ende, holte die Tasche aus dem Pult, ging
zur Tür, sagte: „Auf Wiedersehen!“, und verließ die Klasse. Frau Müller
sah ihr verwundert nach, und erst als Amelie die Tür schon längst
geschlossen hatte, sagte sie zu mir: „Ludmilla, hol sie sofort zurück!“
Ich
ging auf den Korridor und rief: „Neue Schülerin, du sollst sofort zurückkommen!“
In der Aufregung hatte ich nämlich ihren Namen vergessen. „Äh ...
Amelie, komm sofort zurück.“
Amelie
drehte sich um und lachte.
„Wie
heißt du denn eigentlich?“, fragte sie mich.
„Ludmilla!“
„Wie?“,
fragte sie zurück, und ich wiederholte meinen Namen. Sie fand ihn
komisch: „Ludmilla-Lilla-Lilli!“
Meinetwegen,
dachte ich und machte dasselbe mit ihrem Namen: „Amelie-Milla-Milli.“
Milli
und Lilli, das gefiel uns.
„Von
wo kommst du her?“, fragte ich Milli.
„Aus
Bayern“, sagte sie. „Und du, bist du von hier?“
„Nein.
Ich komme aus Moskau.“
Milli
fand es gut, dass auch ich von anderswo her kam und keine Freundin hatte.
Sie lud mich sofort zu sich ein und schon am selben Nachmittag besuchte
ich sie.
Milli
wohnte in einer Zweizimmerwohnung in einem Studentenwohnheim für
Familien, weil ihre Mutter Studentin und Alleinerziehende war. Ihr Vater
studierte ebenfalls, aber er wohnte anderswo. Er kam selten zu Besuch und
befand sich gerade für ein Auslandssemester in Frankreich. Milli sagte,
dass sie gar nicht mehr wüsste, wie er aussah.
Als
ich Milli zum ersten Mal im Studentenwohnheim besuchte, staunte ich nicht
wenig. Sie hielt einen Hasen in der Wohnung. Er lebte in einem Käfig, der
auf dem Balkon oder im Zimmer stand. Der Hase hieß Rambo. Eigentlich
durfte Milli ihn in der Wohnung nicht frei herumlaufen lassen. Wenn ihre
Mama aber nicht zu Hause war, ließ sie ihn aus dem Käfig raus.
Milli
öffnete die Käfigtür und Rambo hoppelte auf den Teppich.
Wir
passten beide auf, dass er ihn nicht zerfetzte oder die Sofabeine
anknabberte. Er wetzte sich nämlich an allem die Krallen und nagte alles
an, was er zwischen die Zähne bekam. Das ist für einen Hasen normal,
aber er durfte es trotzdem nicht, weil es nicht ging, dass er die Wohnung
ruinierte.
„Esst
ihr den Rambo zum Schluss?“, fragte ich Milli, als sie ihn streichelte
und zwischen den Ohren kraulte. Ich bekam die Antwort, die ich erwartete.
„Nein“,
sagte Lilli ziemlich empört.
Sie
ließ den Hasen los und er verschwand ins Schlafzimmer unterm Bett. Wir
rannten hinter ihm her und krochen auch unters Bett, um Rambo wieder ans
Tageslicht zu ziehen. Er sauste aber davon, während wir im Staub lagen
und niesten. Danach holte Milli eine Bürste und wir gingen auf den
Balkon, um unsere Kleider zu schütteln und zu bürsten.
„Mein
Onkel in Komrat hatte zehn Hasen“, sagte ich.
Milli
sah mich ungläubig an. „Wo liegt Komrat?“, fragte sie.
„In
Gagausien“.
„In
Gaga-was?“
„In
Gagausien in Moldawien. Als ich noch ganz klein war, haben auch wir dort
gewohnt.“
„So
viele Hasen kann man gar nicht halten“, sagte Milli.
„Er
hat sie nicht in der Wohnung, sondern im Stall gehalten“, sagte ich,
„und bei unserem letzten Besuch hat der Onkel alle geschlachtet. Meine
Tante hat Braten gemacht, und den haben wir beim Abschiedsfest mit den
Verwandten, den Freunden und den Nachbarn gegessen.“
„Alle
zehn?“, wollte Milli wissen.
„Alle!“,
sagte ich.
Milli
überlegte eine Weile. „Schwör mir“, sagte sie dann, „dass du in
Deutschland keine Hasen isst!“
„Ich
schwör es.“ Mir war der Hasenbraten gar nicht wichtig. Ganz im
Gegenteil: Ich überlegte, was ich für Lilli noch tun konnte, worauf ich
für sie noch verzichten könnte.
„Darf
ich Huhn essen?“, fragte ich nach einer Weile.
Milli
überlegte ein bisschen und sagte: „Ja. Alles außer Hase.“
„Auch
Frösche und Schnecken?“, fragte ich und schüttelte mich vor Ekel.
„Ja!“,
sagte Milli und schüttelte sich ebenfalls. „Habt Ihr in Moskau und in
Gagausien wirklich auch Frösche und Schnecken gegessen?“
„Nein“,
sagte ich. „Wir haben übrigens sehr selten Fleisch gehabt, weil es zu
teuer war.“
Wir
suchten Rambo in der ganzen Wohnung. Schließlich fanden wir ihn im
Badezimmer, wo er gerade dabei war, den Wäschekorb anzuknabbern. Milli
packte ihn am Genick. Rambo wehrte sich mit den Füßen, aber es half ihm
nichts. Milli schob ihn in den Käfig. „Der ist manchmal ganz schön
wild“, sagte Milli. „Aber meistens ist er friedlich und lieb.“
...
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